Marie Louise und die Giraffen oder wenn es Übermorgen schon zu Ende wär

Ich sehe eine kleine Frau mit einem eingeflochtenen grauen Zopf und einem Seemannshemdchen neben mir sitzen, während ich schreibe. Ich habe mich in einem Café niedergelassen, draußen ist es stiller als sonst an einem Wochentag.

Der Himmel weint jene Tränen, die den Menschen im Halse stecken bleiben. Ich höre die Geräusche des Milchaufschäumers wie durch einen Schleier aus gedämpfter Apathie. Die endzeitliche Fassungslosigkeit ist dieser Tage in allen Räumen anzufinden. Doch die feengleiche Alte rechts neben mir wirkt nicht so, als könne sie sich nicht mehr regen, wie die meisten anderen Menschen, die ich wahrnehme.

Ich beobachte gern andere, denn dann versinke ich nicht im inneren Abgrund meines Unvermögens, zu glauben, dass es nach dem Ende weiterginge.

Sie sitzt da und lächelt leise zu mir hin, streicht ihren Faltenrock gerade und schaut mir interessiert zu, wie meine Finger über die Tastatur eilen. Ich vergaß, ihren Namen zu erwähnen, weil Geister keine Namen mehr brauchen. Nun denn, mir scheint, es macht die Sache leichter, ihr Leben zu umreißen, wenn wir wissen, wie man sie nannte.

Marie Louise ist nicht mehr bei uns, wie wir es selbst sind, während wir die letzten Stunden unseres gemeinsamen Existierens bewusster atmen als sonst. Ich habe mir überlegt, dass ich schreiben möchte, weil ich mich dabei sehr lebendig fühle. Die meiste Zeit meines Lebens schrieb ich nicht sondern beschäftigte viele fleißige, hübsche Bienen in meiner Werbeagentur. Doch mein Leben ist trotz innovativer Einfälle und wilder Nächte eher langweilig gewesen. Diese kleine, feine Dame begleitet mich beim Schreiben und macht mich neugierig. Marie hat viel mehr erlebt als ich, nicht nur weil sie mehr als doppelt so alt ist. Man sieht es ihr an: ihre Augen senden nur ganz vorsichtige Krähenfußlinien zu ihren Haaransätzen aus, denn das ungezwungene Lachen war nie in ihrem Vermögen. Ihr kleiner Mund zuckt in regelmäßigen Impulsen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man darin unbewusste Millisekunden-Küsse. Ihre gebrechlich-kleinen Fingerknochen bewohnen eine so dünne Haut, dass man das Blut darin strömen sieht.
Das war immer schon so, doch nun richtet die Tattrigkeit ihrer Muskeln den Scheinwerfer eines jeden Aufmerksamkeit auf die Zartheit ihres Skeletts. Auch wenn ihr Körper angezogen und nur zu erahnen ist, weiß ich, dass ich den Lebenssaft, der sie einst bewohnte, auch durch die Falten ihrer Brüste strömen sähe, säßen wir gerade in einer Sauna. Doch die Saunen sind ja alle geschlossen in unserer Stadt.

Marie Louises Brüste nährten einst zwei Kinder und waren ihr stets am nächsten von allen Körperteilen, wenn sie an sich herabblickte. Sie erzählten jedoch eine eher teilnahmslose Geschichte. Zu ihren Kindern konnte Marie Louise, vielleicht aus Mangel an Erfahrung mit einer eigenen Mutter, keine Nähe zulassen. Sie erfüllte alles, was eine Mutter tun sollte, doch sie fühlte sich immer fremd im Umgang mit ihren Kindern. Die Jahre vergingen, die Fotoalben wurden dicker, doch auf keinem Foto sah man sie herzhaft lachen.
Nun, da Marie ihren Aggregatzustand geändert hat, blickt sie nicht mehr an sich selbst herab. Sie ist einfach anwesend.
Sie blickt mich an. Mich. Und ich darf ihre Geschichte erzählen.
Marie Louise Hansen kommt aus einer gut situierten Hanseatenfamilie. Sie hatte nie das Glück, ein Geschwisterchen zu bekommen, da ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war.
Der Vater aber liebte sie sehr und sattelte damals beruflich um, damit er sie großziehen konnte. Als Seemann wäre er einfach zu selten zuhause gewesen. Der Verlust seiner Frau traf ihn tief, und die kleine Marie war sein Licht. Sie aufzuziehen, gab ihm einen neuen Sinn, und den brauchte er dringlichst, wo doch die Liebe seines Lebens zu den Sternen gereist war. Er fing an, im Hafen zu arbeiten, machte einen Führerschein für Ladekräne und hatte bald viele Männer anzuleiten. Sein Chef entband ihn vom Schichtdienst, weil ihm sehr leid tat, dass er Frau und Meer hatte hergeben müssen. Der Dienst sollte nicht zwischen dem Kind und ihm stehen. Die Kleine war doch alles, was ihm geblieben war.
Auch wenn sie viel Zeit gemeinsam verbrachten, hatte die kleine Marie einen oft griesgrämigen Brummelvater am Essensstisch neben sich sitzen. Gesprächigkeit war nicht gerade seine Stärke. Er gab es nie zu, doch ihm fehlte das Meer, das ihn oft von Alltäglichkeiten ferngehalten hatte. Die horizontale Weite schenkte ihm einst eine Gelassenheit, die zwischen Kochtöpfen, Waschmaschine, Einkaufswagen und Kinderbüchern irgendwie nicht mehr auf-windete. Sein raues Gesicht musste keinen Böen mehr standhalten, dafür aber der Klimaanlage im Auto.
Maries pfeiferauchender Vater trug seine Kapitänsmütze mit Stolz und auch bei dreißig Grad im Schatten. Er war ein verlässlicher Vater, der sie täglich abholte und die Pflichten beider Eltern allein übernahm. Marie mochte sein Essen, außer das Labskaus, das fand sie ganz gräßlich!
Zu später Stunde, wenn der Vater ganz verloren aus dem kleinen Strebenfenster auf die Elbe blickte, beobachtete sie ihn. Er meinte, sie sei schon eingeschlafen, doch Marie schlich sich aus dem Bett, schwebte mit ihren Katzenpfotenhausschuhen auf den oberen Treppenabsatz, linste durch die gedrechselten Streben und fühlte sich ihrem Papa sehr nah. Er konnte nicht über seinen Schmerz mit ihr sprechen. So konnte auch sie nicht mit ihm über die fehlende Mutter reden. Doch wenn Marie ihm heimlich zusah, während er tieftraurig auf die blinkenden Lichter im Hafen und die vorbeigleitenden Containerschiffe starrte, wusste sie, dass sie mit ihren inneren Tränen nicht alleine war. Das tröstete sie fast so, als hätte er die Kraft gefunden, sie zu umarmen und ihr Haar zu streicheln, so wie ihre Mutter es vielleicht getan hätte.
Die Kinder in ihrer Umgebung konnten mit ihrer Introvertiertheit nicht so gut umgehen. Sie hüpften Gummitwist und fragten die Träumsuse nicht, ob sie mithopsen wollte. Sie selbst war wiederum zu schüchtern, um zu fragen. Marie träumte oft vor sich hin, wünschte sich an ferne Orte, von denen ihr Papa erzählte, wenn seine Laune einmal besser war als üblich.

Er sei überall gewesen mit dem Schiff, erzählte er – bevor Marie Louise zur Welt kam, versteht sich. In fernen Ländern gab es schwarze Strände und rote Berge, Meere voller Sand doch ohne Wasser und unendlich viele Sprachen, die sie nicht verstand. Von einem Kontinent aber, musste der Papa immer wieder erzählen, wenn sie im Sommer im Garten an der Övelgönner Fussmeile saßen und die Menschenmassen an sich vorbeischlendern sahen: von Afrika.
Afrika faszinierte sie. Da ließ sie nicht locker. Sie bohrte so lang, bis er die Sonnenbrille absetzte und sie ganz sanft anlächelte. Die vielen wilden Tiere, die karge Landschaft, das Wasser, das so selten zu finden und deshalb so kostbar war. In Hamburg war das Wasser allgegenwärtig. Die Elbe floss am Heimathaus vorbei – tagaus und tagein. Ohne das Wasser verstummte der Puls der Stadt, das war gänzlich unvorstellbar.
Seltsam, wie an einem Ort das Wasser kostbar und an einem anderen so selbstverständlich war. Das fand Marie Louise sehr spannend.
In Hamburg-Övelgönne ist Marie Louise aufgewachsen. Sie hatten das Haus sogar noch bewohnt, nachdem sie geheiratet hatte.
Doch heute lebt sie dort nicht mehr.
Marie Louise war nun ein bisschen verwirrt und wohnte in einem Altersheim, weil ihre Kinder mit ihrer Schusseligkeit nicht zurechtkamen. Wer sich um die alternden Eltern kümmert, muss die Nähe zu ihnen ertragen können. Was aber, wenn es diese Nähe niemals wirklich gab? Eine nicht zu beantwortende Frage. Und Marie Louise konnte nicht einmal die Frage stellen. Sie sprach nicht mehr.

Ihr Sohn ist wahrscheinlich noch Investmentbanker, Ende dreißig und lebt in Frankfurt. Ob er die Zahlen weiterhin anbrüllt vor übermorgen? Wir wissen es nicht.

Bei seiner Mutter meldete sich jedenfalls nur zu Weihnachten und manchmal auch an ihrem Geburtstag.
Die Tochter ist 36 und lebt in Poppenbüttel. Sie heiratete einen reichen Mann, gebar ihm zwei Mädchen, die sie täglich in ihrem Porsche Cayenne von der Villa zur Schule und danach zu Ballett- und Voltigier-Untericht fährt.

Sie besuchte ihre Mutter sehr selten, weil sie den Geruch im Heim abstoßend fand.

Ob sie diesem Widerwillen widerstehen kann und nun noch einmal hinzufahren gedenkt. Wer weiß.
Marie Louise sammelte seit dem Tod ihres Mannes vor achtzehn Jahren Giraffen.
Als Kind wollte sie Wildhüterin werden und ihren Vater zu sich einladen, damit er einmal wieder lachte. Zumindest glaubte sie, dass er dann wieder lachen könnte, weil er ihr früher so begeistert von den Tieren erzählt hatte. Doch dann traf sie Siegfried. Sie tauschte Afrika gegen hamburgische Upperclass ein, denn ihr Mann war einst Reeder und erwartete, dass sie zuhause blieb bei den Kindern.
Maries Vater verkroch sich in seinen Büchern, rupfte im Sommer das Unkraut aus den Blumenbeeten und paffte die Dachkammer mit seinen Pfeifen zu. Dort wohnte er noch lange mit ihnen zusammen unter einem Dach, doch niemand außer Marie Louise konnte Zugang zu ihm finden. Sie besuchte ihn oft am Nachmittag, brachte ihm seinen Kaffee in der Thermoskanne und las ihm Seemannsgeschichten vor.
An einem Morgen war ihr Vater nicht mehr aufgewacht und hielt das Bild seiner Frau in den Händen. Er schlief oft damit ein. Marie hatte es ihm schon unzählige Male aus der Hand genommen, wenn sie nachts noch einmal nach ihm sah. Meistens wachte sie um die selbe Uhrzeit unvermittelt auf, wie zu jenem Moment, als sie zuerst das Licht der Welt erblickte. Um vier Uhr drei war ihre Mama gestorben. Und sie lebte weiter. Als Kind dürfte sie das nicht, doch nun konnte niemand ihr verbieten, um vier Uhr aufzustehen. So hatte es doch das Leben entschieden.
Marie Louise saß stundenlang in ihrem Nachthemdchen am Küchentisch und starrte ihre kalt gewordene Tasse Tee an. Um kurz vor sieben ging sie duschen und weckte die anderen Mitglieder der Familie. Bis auf den Vater. Den weckte sie nie. Sie traute sich nur des nachts zu ihm, wenn er nicht bemerkte, dass sie störte. Sie eroberte sich immer wieder diese heimlichen Beobachtungsstunden. Nun sah sie ihn nicht mehr am Fenster sitzen, sie schaute ihm beim Schlafen zu. Als sein Herz aufgehört hatte, zu schlagen, suchte es sich leider eine ungünstige Uhrzeit dafür aus. Es verweigerte seinen Dienst um halb vier an einem Montagmorgen, kurz bevor Marie die Dachkammer betrat, um nach ihrem Vater zu sehen. Sie konnte nichts mehr für ihn tun. Das Bild von der Mama stand noch bis zum Umzug ins Heim auf seinem Nachttischchen, dem Fenster zugewandt, das auf den Hafen zeigte.
Die Kinder gingen bald ihre eigenen Wege. Sie interessierten sich hauptsächlich für die angesagtesten Jeansmodelle und deren Finanzierung. Doch ihr Vater war knauserig. Es gab nicht selten Streit ums Taschengeld.
Wenn die Stimmen ihr zu laut wurden, verließ Marie Louise den Tisch und legte sich mit einem Roman in die Badewanne.
Marie Louise und ihr Mann gingen wöchentlich zum Tango-Tanzen, und einmal im Monat lud er sie zum Essen ein.
Sie verzieh ihm die zwei Affären, von denen sie wusste.
Dann war Siegfried aber wie der Vater an einem Herzinfarkt gestorben und hinterließ ihr Hab und Gut.
Das Haus gehörte ja bereits ihr, doch die Aktien waren viel wert. Dann gab es da noch das Ferienhaus auf Sylt und einen beachtlichen Inhalt in einem Bankschließfach. Der Verstorbene legte im Testament fest, dass die Kinder erst nach Marie Louises Ableben erben sollten. Alle Aktien-Gewinne flossen derweil auf ein Tagesgeldkonto. Vor allem der Sohn sollte fleißig sein und sich selbst nach oben arbeiten. Doch nach achtzehn Jahren kam Marie Louises Demenz dem letzten Wunsch ihres Mannes in die Quere.
Die Kinder verlangten, dass sie die Häuser verkaufte, die Aktien ebenso, und ihnen ihren Erbteil ausbezahlte. Sie setzten dies durch, weil sie offiziell nicht mehr zurechnungsfähig war. Und dann suchten sie das günstigste Heim, das zu finden war, um ihre Mutter dort betreuen zu lassen.
Marie Louise ließ das Bett ihres Vaters vom Boden holen, auch den Nachttisch, seinen Sessel und das Bild von der Mama. Die Bücher, aus denen sie ihm vorgelesen hatte, steckte sie in einen Karton. Sie stellte sie auf ein kleines Jugendstil-Regal, das von ihrer Mutter stammte. Auch wenn sie sie nicht mehr lesen konnte, vermittelten ihr die ledergebundenen Buchrücken doch Geborgenheit. Und dann war da noch der Stuhl, auf dem sie noch mit dickem Bauch gesessen und auf die Rückkehr ihres Matrosen gewartet hatte. Dieser Stuhl stand nun neben dem Bett. Aber nicht mehr lang. Dazu später.
Sobald sie sich in dem kargen Zimmer eingerichtet hatte, fing Marie Louise an, Giraffen zu sammeln.
Plüschtiere, Bilder und kleine Figuren; ihr Zimmer im Heim war über und über gefüllt mit Giraffen. Sie träumte von Afrika und besuchte regelmäßig den Zoo. Der Wärter im Kartenhäuschen mochte sie sehr gern, teilte den Kaffee aus der Thermoskanne mit ihr und las ihr manchmal vor. Sie saß neben ihm auf ihrem Mama-Stuhl im Kartenhäuschen und lächelte die Besucher freundlich an. Auch die Giraffenpfleger kannten sie sehr gut. Manchmal verirrte sie sich im Zoo, doch alle Angestellten wussten, wer sie war und brachten sie zu Heinzi an den Eingang zurück.
Nun, da die Welt nur noch eine Woche sein sollte, ging sie täglich in den Zoo. Heinzi verlangte keinen Eintritt, was sollte schon passieren? Den Job konnte er nicht mehr verlieren.
Am vorletzten Tag blieb Marie Louise so lange vor dem Gehege stehen, bis die Giraffen in die Stallungen geführt wurden und schlüpfte durch die Tür, während der Wärter diese nur unaufmerksam anlehnte, um noch eine Fuhre Blätter vom Wagen zu holen. Er hatte entschieden, seiner Verantwortung bis zum Ende gerecht zu werden. Marie Louise versteckte sich unter einem Haufen Stroh, als der Wärter einen letzten Blick in die Behausung der Langhälser warf. Dann schloß sich die Tür.
Marie Louise kam aus ihrem Versteck, blieb einfach ruhig sitzen und ließ sich beschnuppern.
Giraffen wehren sich mit den Hufen, wenn sie Gefahr wittern. Sie sind nicht ungefährlich. Doch Marie Louise hatte keine Angst. Die Tiere spürten ihr Vertrauen und fühlten sich nicht bedroht.
Sie weinte vor Glück, als das Kleine mit seinen weichen Nüstern ihre Wange streifte.
Stunden vergingen, bis die zarten Riesen ihr genug vertrauten, um im Stehen einzudösen. Giraffen schlafen nur dreißig Minuten in der Nacht und jeweils nur in kurzen Etappen von bis zu drei Minuten. Marie Louise war wach bis um kurz vor vier Uhr morgens. Sie schlief um die selbe Zeit ein, zu der sie sonst erwachte.
Am heutigen Morgen um sieben fand der Pfleger Marie Louise im Heu. Sie haben es vorhin im Radio erzählt, als ich mir einen Becher Kaffee eingoß. Man sagt, sie sei lächelnd eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.
Nun sitzt sie neben mir, und ich muss sagen, ihr Lächeln ist ganz zauberhaft.