Ich bete für Julian Assange

In den letzten Wochen stand Deutschland auf der Strasse: gegen die Opposition und für die Demokratie.

Am 17.2. gingen ein paar ganz Wenige für die Pressefreiheit und somit einen Eckpfeiler der Demokratie auf die Straße. Julian Assange wird seit fünf Jahren ohne Anklage in einem Hochsicherheitsgefängnis gefangen gehalten und gefoltert. In der kommenden Woche soll sich entscheiden, ob er an die USA ausgeliefert wird. Geschieht dies, wird er wohl nie wieder frei kommen.

Erfahrungsbericht

Bevor ich losgehe, fühle ich schon den Druck und die Traurigkeit. Widerwillig mache ich mich auf den Weg durch die samstägliche Kauforgie, um Gleichgesinnten in der Innenstadt zu begegnen und symbolisch für Julian einzustehen. Ich bin schon mit dem Feld verbunden und treffe eine liebe Freundin.

Sie und ich kommen an und sehen den Truck. Mir springt mein Herz fast aus der Brust. Die Freude über dieses Zeichen tiefsten Respekts vor Julian Assange.

Wir reihen uns ein in den Zug.
Eine Frau kommt auf mich zu. Wir umarmen uns.

Die Trommeln begleiten die Fassungslosigkeit über die starrenden, da ahnungslosen, Konsumenten am Wegesrand.
Die Ohnmacht vor all dem, was hier in den letzten Jahren passiert ist und sich erschreckend totalitär fort-entwickelt im post-neu-normalen Kollektiv, überkommt mich. Hat das denn niemals ein Ende?Es fühlt sich an, als verschmölze ich mit den Schritten der anderen, als die Snaredrums unisono das Schweigen tragen. Mein Herz. Ich fühle nur noch mein Herz und versuche, tief zu atmen. Alles, was der Taktgeber in meiner Brust bezeugt hat, ist zu komplex, um es nur kurz anzureißen.

Es gibt sowieso ein stilles Redeverbot zu all dem, was angewiesen und leider oft auch nur zu gern befolgt wurde, egal wieviele Menschen das seelisch verkraften konnten oder nicht. Egal wieviele Schäden durch all das entstanden und egal wer oder was für welche davon verantwortlich ist.
Wer das Angebot ablehnte, wurde aus dem Raum des demokratischen Diskurses verscheucht, verlacht, verhöhnt, ausgegrenzt, kriminalisiert, bestraft und verworfen. Wer es dagegen annahm und danach seine Gesundheit verlor, vermisst vergeblich das Mitgefühl und die aufopfernde Hilfe der solidarischen Massen und Verantwortlichen auf dem hohen moralischen Rosse.

Auf allen Bildschirmen flimmerte die Hetze. Jahrelang. Und nun geht sie munter weiter.

Jeder Kritiker wird ins rechte Lager eingeordnet, als gäbe es keine Mitte mehr. Kaum jemand lässt sich auf ein inhaltliches Gespräch herab. Heute wird die Deutung und Vorgabe von Wirklichkeit den Moderatoren überlassen. Wer etwas anderes behauptet, soll nun – auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – von der grünen Polizei verfolgt und Zuhause besucht werden. Die Gesetze dazu werden gerade geschaffen und vom Volk beklatscht. Im Volke werden dann Privatpersonen in der jüngst errichteten Meldestelle, anonym melden können, dass jemand vom vorgegebenen Narrativ abweicht.

Die EU dirigiert nach unten durch: In Frankreich zum Beispiel wurde gerade ein Gesetz verabschiedet, mit dessen Hilfe man Kritiker der neuartigen mRNA-Technologie drei Jahre lang hinter Gitter bringen kann.

Zur Abwechslung ist das Wetter trocken. Als wäre Petrus auf unserer Seite…

All jene, die so zahlreich für Demokratie und Menschenrechte marschierten, zeigen heute keinerlei Präsenz.

Das fehlende Bewusstsein schockt mich.

Wir weilen unter jenen, die den Schmerz und die Traurigkeit mit uns teilen.

Bei einer der Reden auf der Kundgebung wird wieder ein Loblied auf Willi Brandt gesungen. Selbst hier hat man wohl vom Kentler-Verbrechen unter Brandt noch nie etwas gehört. Wie bei der letzten Friedensdemo klatscht man, wenn dieser Name fällt. Ich bin kurz angefressen, bevor bald die Traurigkeit zurückkehrt.

Meine Freundin und ich sprechen über die vielen Puzzleteile. Wenn nur eines fehlt, erkennt man das große Ganze schon nicht mehr und verherrlicht gar Mitwisser und/oder sogar Verantwortliche.

Im Hintergrund posieren und tanzen zwei sichtlich von sich selbst eingenommene Kids, die – während der ersten Rede über inhaftierte und gefolterte Journalisten in Ost und West – ein affektiertes TikTok Video vor der Binnenalster-Kulisse drehen. Sie winken uns zu, als wären wir Groupies.

Ein Mann mit Hund schiesst Bilder, steht verloren da und weint. Er hat ein wenig später dieses Bild von mir gemacht.

Danach habe ich ihn umarmt und „Danke“ gesagt. Er war ergreifend authentisch. Ich hatte exakt das selbe Gefühl wie er und war tief berührt.

Wer dieses Grauen versteht und von einer völlig anderen gelebten Fassade umgeben ist, kann sich nur verloren fühlen an der Kluft der Spaltung. Im Abgrund grinst die schöne neue Weltordnung nach oben wie die Katze aus Alice im Wunderland.

All jene, die heute für Julian einstehen, sind genauso ergriffen wie ich.

Wie viele Millionen Bürger leben in dieser Stadt? Wie viele sind wir hier, während in England Geschichte geschrieben wird?

Wir stehen im Nebel und leuchten. Wie ein paar kleine bewohnte Muscheln in der kargen Wüste aus Mikroplastik auf Platinen. Wenigstens sind wir nicht ganz allein.
Die Welt fühlt sich an wie hinter Glas. Perfekt und leer. In mir haben die Farben sich zusammengerauft, um dem echten Leben ein Bild der Hoffnung zu komponieren. Der Mensch hat ein unendlich großes Potenzial, aber er will lieber Statist bleiben.

Der Weg nach Hause ist noch schwerer als der Hinweg. Ich fühle mich erschlagen und gestehe mir ein:

Nur noch ein Wunder wird die selbstbestimmte und verletzliche Menschlichkeit retten.

#freejulianassange