die menschliche Wahrnehmung von Kunst im digitalen Raum

Ich selbst bin Künstlerin und schaue, solange ich mich erinnern kann, mit kreativen Augen auf unser aller Wirklichkeit. Im letzten Jahrzehnt, so nehme ich es wahr, hat eine eklatante gesellschaftliche Veränderung stattgefunden.

Das menschliche Leben verlagert sich mehr und mehr in den digitalen Raum. Die systemische Verwaltung und Logistik profitieren von dieser Entwicklung, da durch die digitale Erfassung und Verarbeitung verwaltungsrelevante Prozesse vereinfacht und beschleunigt werden können. Doch überall dort, wo wir diese logistischen Prozesse beeinflussen, verändern wir letztlich auch das praktische Leben der Menschen. Ich glaube, dass der Homo Sapiens mit dieser Veränderung viel zu arglos umgeht.

Die privaten Daten der Verbraucher werden immer gläserner, und das kann sich negativ auf die freiheitlichen Grundrechte der Menschen auswirken. Der intime Raum ist existenziell wichtig für die seelische Funktion. Löst sich dieser mehr und mehr auf, ist die selbstbestimmte Lebenswirklichkeit eines jeden Einzelnen gefährdet.

Ein schleichendes Erodieren der Privatsphäre hat eingesetzt. Es droht eine allgemeingültige Auflösung menschlicher Schutzräume, in denen das Individuum sich unbewusst stets beobachtet fühlt und in einen Präsentationsmodus hineinrutscht, der die Intimität mit sich selbst zerstören kann. Die Fähigkeit, mit sich selbst allein zu sein, führt dazu, dass man beziehungsfähig ist und exklusive Bindungen eingehen kann. Diese Bindungen erschaffen jenen sozialen Rückhalt, den jeder Mensch für eine gesunde Lebensweise braucht, denn wir sind alle keine Inseln.

Leider ist zu beobachten, dass immer mehr Menschen die digitalen Räume nutzen, um vor sich selbst zu fliehen.

Die menschlichen Sinne werden im digitalen Raum weniger trainiert, da nicht nur in der Verwaltung sondern auch im sozialen und kulturellen Miteinander das Digitale den Wahrnehmungs- und Interaktionskorridor zunehmend verengt.

Überall, wo im sozialen Raum spontane Kreativität die Menschen erfreut, holen viele von ihnen wie programmiert das Smartphone hervor, um den Moment einzufangen und nicht selten auch im digitalen Raum zu verbreiten. Die Verführung, den Zauber des Augenblicks festzuhalten und so in gewisser Weise auch zu besitzen, ist sehr groß und erschreckend vielen Mitbürgern überhaupt nicht bewusst. Ein Verhaltensautomatismus hat sich eingeschlichen und triggert auch Suchtmechanismen im Gehirn:

Es gibt Menschen, die über das Teilen dieser digitalen Besitztümer eine positive Resonanz von außen generieren und diese Likes und Herzchen ständig und vermehrt benötigen, um sich im eigenen Wert zu bestätigen.

Mit sich selbst schon genug zu sein, braucht Zeit und Beschäftigung ohne Zeugen. So kann sich ein individueller Ausdruck entwickeln und auch zu Ergebnissen führen, die mit anderen zu teilen sind. Nicht nur in der Kunst sind diese kreativen Prozesse notwendig.

Ein Künstler lebt nicht nur vom Flowgefühl und dem Glück der künstlerisch gelebten Liebe allein. Ein Künstler braucht auch immer Konsumenten seiner Erzeugnisse, wenn er davon leben möchte, kreativ zu wirken. Dass heißt, er sollte allein sein können, um in seine Wirkkraft zu kommen. Er sollte aber auch die Fähigkeit etablieren, sich der Welt zu zeigen und die Ergebnisse seiner Arbeit mit den Mitmenschen zu teilen.

Jede Form von kreativem Ausdruck lässt sich in einem kleinen oder großen Rahmen präsentieren. Der digitale Raum ist potentiell grenzenlos. Energien können sich schnell verflüchtigen. Sie können aber auch weltweit resonieren und in den Resonanzräumen wirken, die im Inneren der Konsumenten aufgehen.

Ich persönlich schaue aus drei Perspektiven auf diese Entwicklung. Zum einen bin ich selbst eine Künstlerin, die mehrere Ausdrucksformen nutzt. Ich singe und male, schreibe und suche nach kreativen Kanälen für meine Empfindungen. Meine sinnliche Erfahrung kann über die Kunst sicht- und hörbar werden und so in anderen eine Wirkkraft entwickeln, inspirieren und vielleicht auch dabei helfen, nötige und heilsame Prozesse anzustoßen.

Zum anderen bin ich auch kreativ-therapeutisch ausgebildet und habe mich als Mensch intensiv mit gesellschaftlichen Themen befasst und in diesem Bestreben auch nach den soziologischen Dynamiken geschaut, wenn ich die kollektiven Herausforderungen ergründete. Meiner Meinung nach ist genau dies die Aufgabe eines Künstlers, denn der Künstler ist der Seismograf der Gesellschaft. Seine Wahrnehmung ist häufig um einiges offener und breiter aufgestellt als die eines Otto-Normalverbrauchers. Die soziologische Problemlösestrategie würde ausreichen, wenn wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun hätten, das ausschließlich natürlichen Ursprungs ist. Doch die digitale Entwicklung, das technisierte Weltbild und der zunehmend perfektionistische Automatismus drängen sich in einem erschreckenden Tempo in unser aller Entscheidungen hinein und sind in ihrem Ursprung alles andere als natürlich.

Der perfektionistische Anspruch und die gesamtgesellschaftliche Moral werden mehr und mehr durch digitale Vorgaben bestimmt.

Die Maschine gibt uns Handlungsanweisungen, sodass die Verantwortlichen im System immer seltener für ihre Befehle und Handlungen gerade stehen müssen.

Der Künstler sollte die Menschen auf diese mögliche Fehlentwicklung aufmerksam machen. Warum tut er das nicht? Weil der Künstler – ebenso wie alle anderen – existentiell von der Materie im unnatürlichen Parallelsystem abhängig ist: Von der digitalen Welt und dem Geld, das darin generiert wird…

Unser Instinkt, das altbekannte Bauchgefühl, und die Stille, die jeder Mensch benötigt, um zu reflektieren und das Erlebte zu verarbeiten, werden umgangen. Fehler dürfen nicht zugegeben werden, da wir uns ständig mit der Maschine messen müssen, um mit der Zeit zu gehen. Die Sinnlichkeit braucht Raum, um wahr- und angenommen zu werden. Die Sinnlichkeit benötigt die unmittelbare materielle Wirklichkeit unseres Körpers im materiell existierenden Raum und bekommt im digitalen Feld nicht die Dreidimensionalität, die unser menschliches Gehirn für eine ganzheitliche Wahrnehmung benötigt.

Alles, was auf dieser materiellen Erde existiert, war zunächst einmal eine Frequenz. Realität entsteht aus Frequenzen. Die Quantenphysik hat das längst nachgewiesen. Doch wo die digital begrenzte Idealvorstellung von Wirklichkeit den realen Lebensraum er- und besetzt, verkümmern unsere sinnlichen und geistigen Fähigkeiten. Ich stehe, wie diesen Zeilen zu entnehmen ist, der Digitalisierung also sehr skeptisch gegenüber.

Zum Dritten schaue ich auch als Mensch und Mutter nicht ohne Sorge auf die nun heranwachsende Generation, die permanent dieser Verführung ausgesetzt ist und auch durch die digitale Verfügbarkeit in ihrer Entwicklung gestört wird. Die Pubertät ist eine Lebensphase, in der sich die Persönlichkeit entwickelt und die Fähigkeit erlangt wird, Gefühle zu durchleben und zu überleben. In dieser Zeit ist nicht nur die soziale Auseinandersetzung sehr wichtig sondern auch das Sein mit sich selbst unbedingt erforderlich. Nach den Jahren der Corona-Krise gäbe es viel zu rekapitulieren, zu fühlen und zu verarbeiten. Stattdessen flüchtet der Nachwuchs sich mehr und mehr in die digitale Dissoziation.

Zunächst einmal stelle ich fest, dass das Leben immer auch Veränderungen mit sich bringt, und das ist grundsätzlich gut so. Sind diese Veränderungen in gewisser Weise organisch entstanden, fügen sie sich in die Naturgesetze ein und erzeugen eine konstruktive Evolution. Das Leben kann immer dann fortbestehen, wenn es sich den aktuellen Gegebenheiten anpassen kann.

Das menschliche Dasein wird intrinsisch (von innen) und extrinsisch (von außen) motiviert. Die Bewegung, die uns in kreative (Problemlöse-) Prozesse hineinbringt und auch materielle Ergebnisse erzeugt, beginnt stets auf geistiger Ebene. Die Seele aber nimmt Einfluss auf unseren Geist. Und ein manipulierter und digital begrenzter Geist hat einen nicht unerheblichen blinden Fleck.

Wenn die Seele einen Ausdruck sucht, benötigen wir einen geistigen Verarbeitungsprozess und kommen, durch ihn, ihm Optimalfall zu kreativen Lösungen auf geistiger materieller Ebene. Nur so können wir die materielle Wirklichkeit dann in konstruktive Bahnen lenken. Was aber wenn wir uns in unserer digital-verblendeten Wirklichkeit vom humanistischen Ansatz entfernen? Was wenn wir unsere kostbare Verletzlichkeit in diesem ganzen Optimierungswahn verlieren und letztlich in eine niedere Bewusstseinserfahrung regredieren?

Die Kunst ist immer auch ein Zeugnis kultureller Gemeinschaft, denn der Künstler widmet sich dem Prozess der sinnlich-geistigen Wahrnehmungsverarbeitung oft auch als eine Art Ventil für die gesamte Kultur. Sein „anderer“ Blick auf die Wirklichkeit kann Inspiration für die Allgemeinheit sein und sie auch auf eine mögliche digitale Fragmentierung der menschlichen Wahrnehmung aufmerksam machen.

Doch was, wenn die Zielgruppe sich nur noch in genau jenem Raum bewegt, der die Auflösung von Sinnlichkeit vorantreibt? Gibt es eine Wahrnehmung von Kunst, die jenseits sinnlicher Empfindungen noch die Seele berühren kann?