Wut, Trauer und Verdängung im großen und im kleinen System

Wenn Eltern ihre ungemütlichen Gefühle verdrängen, können sie ihre Kinder nicht in eine gesunde Individualität geleiten. Denn wenn ein Kind nicht gehalten wird, während es Wut, Trauer oder Schmerz zulässt, lernt es selbst, diese Gefühle zu verdrängen, um im Familiensystem nicht sanktioniert zu werden bzw. Ablehnung zu erfahren.
Jedes Kind ist abhängig vom „Ja“ seiner Eltern.

Ich habe viele Menschen kennengelernt, die Jahrzehnte damit verbracht haben, berechtigte Emotionen wieder freizuschaufeln, damit ihr Sein endlich in seiner natürlichen Frequenz schwingen kann und sie zu den Menschen werden können, die in ihnen angelegt sind.

Es gibt bei diesem weit verbreiteten Problem eine relevante Nebenwirkung.
Die WHO sagt, dass 90 Prozent aller Menschen süchtig nach Beschäftigung oder Substanzen sind.
Es gibt anerkannte und verachtete Süchte.
Überall, wo Pausen entstehen, sieht man Menschen, die lieber auf elektronische Geräte starren als sich selbst auszuhalten.
Dabei wird das neurologische Suchtzentrum stimuliert. So werden Gefühle unten gehalten.
Die Arbeitssucht ist die angesehenste unter den Vedrängungsmechanismen.
Es gibt viele Familien, die die Arbeitssucht als Bedingung für Akzeptanz und Kommunikation auf Augenhöhe voraussetzen.
Ich glaube, es gibt eine Menge Menschen, die aus diesem Grunde einen Beruf gewählt haben, in dem sie gar nicht glücklich sind. Sie üben ihn aus Pflichtgefühl, aus dem Wunsch nach elterlicher Zuwendung und dann später nur noch aus Gewohnheit aus.
Das tugendhaft fleißige deutsche Volk.
Die Vedrängung richtet sich gegen das wahre, eigene Potential. Sie hat die Funktion, der eigenen Wahrheit aus dem Weg zu gehen, weil es wehtut, zu erkennen, dass man die bedingungslose Liebe nicht mitgegeben bekam und immer noch unbewusst darum buhlt.
Man vertraut sich selbst nicht genug, um zu durchleben, was das Leben wiederholt im Außen zeigt, um uns an verdrängte Gefühle zu erinnern und uns durch sie zu befreien. Die inneren Widerstände sind enorm, weil das innere Kind geliebt werden will und alles dafür tut, es dieses Mal doch richtig zu machen. Solange man immer weiter die Verantwortung für elterliche Fehler auf sich nimmt anstatt das innere Kind in den Arm, hat man nicht das Bewusstsein entwickelt, aus dem alten Muster auszubrechen.
Ich kenne durch meine Ausbildung und meinen Freundeskreis viele viele Menschen, die mit diesem Thema zu tun haben. Und da ist mir etwas aufgefallen zu Rat-Schlägen, die ich immer wieder höre.
Ein Familiensystem, in dem die Höchstgestellten die Nachkommen ausgrenzen oder abwerten, wenn sie sich mit jenen Gefühlen auseinandersetzen, die sie über Generationen genetisch vererbt bekommen haben, ist kein guter Nährboden für seelisches Wachstum.
Mir sind bislang viele wohlwollende spirituelle Menschen begegnet, die der Meinung sind, dass das Vergeben und wiederholte demütige Fortführen ungesunder Beziehungsmuster in ihrer Herkunftsfamilie nur zusammen gehen.
Man soll sich selbst zurückhalten und immer wieder in die Dynamik hineingehen, um sich damit auseinanderzusetzen und vergeben zu lernen: „also ich hab das jetzt geschafft. Ich versuche, das nicht mehr zu ändern, es sind halt meine Eltern, die ändern sich nicht mehr. Solange ich da bin auf Besuch, rede ich darüber nicht mehr. Ich bin damit im Frieden.“ Mit diesen Worten schwingt ein Satz mit: „ich bin jetzt erwachsen.“
Für den, dem es wirklich gelingt, authentisch zu bleiben, während er die Gedanken und Worte der Eltern nicht mehr ernst nimmt, freue ich mich. Es gelingt aber vielen Menschen nicht, authentisch und stark zu bleiben im Kontakt mit Eltern, die eine Augenhöhe verweigern. Viele fallen in ihren Kindheits-Modus zurück. Es tut weh und erzeugt ein inneres Ungleichgewicht. Manche Menschen dissoziieren dabei regelrecht. Sie verlieren das mühsam aufgebaute Selbstvertrauen wieder und brauchen danach eine lange Zeit, um sich wieder aufzurappeln.
Gedanken drängen sich auf, Wut blockiert das Herz, Misstrauen vergiftet ihr Vertrauen in das Leben.
Und trotzdem bekommen sie den Rat, außer einer Therapie nachzugehen, zu verzeihen und sich weiterhin über die erwartete Begegnung damit auseinanderzusetzen, bis sie geschafft haben, damit umzugehen.
Diese Doktrin legt dem inneren Kind, das jeder in sich trägt, eine seelische Aufgabe auf, die zu seinen leiblichen Eltern gehört, die ein wichtiger Teil von deren Seelenplan ist. Man tut niemandem einen Gefallen damit, ihm seine Lebensaufgaben abzunehmen. Man unterschätzt damit eigentlich die eigenen Eltern. „Sie werden das nicht mehr lernen.“
Da werden Familienaufstellungen gemacht, Hypnotherapie und was nicht was, um das Problem der vorigen Generation(en) zu verstehen und zu lösen.
Ein bisschen über Systemik durfte ich bislang lernen.
Systemisch gesehen ist es höchst unnatürlich, wenn Kinder die ganze harte Seelenarbeit für die Eltern tun. Abgesehen davon dass wir ja alle schon genug um die Ohren haben und die Burnout-Quote eifrig ansteigt.
Eltern, die eine mitfühlende und ernstnehmende Auseinandersetzung verweigern, haben kein Interesse daran, zu erfahren, wer sie selbst und ihre Kinder im Inneren geworden sind.
Auch im Erwachsenenalter ist der systemische Bauplan noch vorhanden:
Auch als Großmutter ist man noch Mutter.
Auch als Mutter ist man noch Tochter.
Auch als Enkeltochter ist man noch Tochter.
 
Im besten Fall wird die Tochter auch einmal Mutter werden und in ihrer Liebesfähigkeit durch die Liebe der Generation(en) vor ihr beeinflusst.
Für die Männer gilt das natürlich ebenso.
Kinder wiederholen im Alter die unliebsamen Beziehungsmuster ihrer Vorfahren, wenn sie sich nicht für sich selbst mit den Gefühlen auseinandergesetzt haben.
Auf dem Weg zur Bewusstheit kann sich das ein oder andere Drama ereignen, das eigentlich nichts als eine Wiederholung dessen ist, was als Kind bezeugt wurde.
Unter Umständen sind zu diesem Zeitpunkt auch die Eltern noch am Leben.
Wenn diese weiterhin unbewusst und empathielos sind, wird das erwachsen gewordene Kind von dieser Familie keinen emotionalen Rückhalt erwarten können.
Eltern versuchen dann, neutral zu bleiben, egal wie groß das seelische Leid deren Kindes auch sei.
In einem gesunden Familiensystem könnte niemand neutral bleiben, wenn ein Mitglied leidet, denn alle sind Teil des Systems. In der Praxis sieht es aber häufig vollkommen anders aus.
Natürlich und gesund wäre eine empfundene lebenslang währende Fürsorglichkeit jüngeren Generationen gegenüber, die in individueller Selbstverwirklichung und in einer für das Kind zuträglicheren Form als der eigenen münden darf, nicht in elterlichen Übertragungen und Idealen.
Diese Ideale sind nur zu oft angstbasiert.
Das Prinzip Sicherheit herrscht über jeglichen Ratschlag und klammert die Evolution durch Risiko oder die Andersartigkeit gänzlich aus.
Wer seinem Kind gegenüber nicht offen ist, weil es in seinen Talenten vollkommen anders ist, gibt ihm nicht selten das Gefühl, falsch zu sein, weil die Qualität seiner Arbeit nicht beurteilt werden kann.
Berufungen, die den Eltern fremd sind, werden ignoriert oder auf einer rein analytischen Ebene beurteilt. Besonders bei Künstlern ist dieses elterlich-abwertende Unverständnis nicht gerade selten.
„Wenn du das nicht studierst, unterstützen wir dich nicht.“ oder „Du willst Philosophie studieren? Was ist denn das für ein Schmarrn? Da verdient man doch nichts. Lerne lieber einen anständigen Beruf, damit du finanziell unabhängig wirst. Willst du später Hartz 4 beziehen?“
Es gibt so viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt.
Unsere Kinder sind nicht unser Eigentum. Und doch nehmen sich viele in der älteren Generation heraus, den erwachsen gewordenen Kindern Ratschläge zu geben, obwohl sie gar nicht spüren können, was wirklich gut für sie wäre.
Sie können das nicht spüren, weil sie die Emotionen ihrer Kinder nicht wahrhaben wollen. Sie wollen sich nicht in sie hineinfühlen, weil sie ja nicht an ihre eigenen Gefühle erinnert werden möchten.
Das ist allerdings degenerativ. Es ist unnatürlich. Denn natürlich wäre ein elterlicher Instinkt, dem der Wunsch zugrunde liegt, das Kind möge wahrhaft glücklich sein.
Oft steckt hinter dem gut gemeinten Rat, in den Kontakt mit empathielosen Eltern zu gehen und zu vergeben ein sehr verwandtes Problem nämlich das Unvermögen, die Wut, die Verzweiflung oder die Traurigkeit im Gegenüber mitzufühlen, weil sie an eigene verdrängte Gefühle erinnert. Man möchte sofort Harmonie im anderen erzeugen und propagiert Methoden, die Vergebung und erneuten Kontakt mit der älteren Generation ermöglichen sollen.
Eigentlich geht es aber darum, die Gefühle zu leben, sie nicht wegzumachen, damit andere sich wohler mit einem fühlen.
Wenn man ein Gefühl gänzlich gespürt und durchlebt hat, wandelt es sich von allein. Dann sollte aber auch Raum für eine Wandlung im Außen sein.
Wenn eine Generation die Gefühlsablehnung im Kollektiv und im Individuum überwinden und sich trotzdem in alten Systemen bewegen möchte, muss sie einfordern, dass ihre Gefühle weder negiert noch abgewertet werden. Sonst werden die Dynamiken im System alte Wunden und zu überwindende Muster immer wieder antriggern und eine natürliche Entwicklung stören oder gar verhindern.
Es gibt Eltern, die die Chance der verspäteten Auseinandersetzung mit ihren erwachsen gewordenen Kindern nutzen. Daraus kann etwas spannendes Neues entstehen.
Es gibt aber auch Eltern, die ihre systemische Macht im Familiensystem benutzen, um ihre Gewichte und
Verantwortlichkeiten nach unten weiterzugeben.
Eltern, die aus manchmal nachvollziehbaren Gründen Angst vor ihren verdrängten Gefühlen haben, stellen ihre eigenen Verdrängungsmechanismen über das Wohl ihrer Kinder.
Diese Entscheidung ist zu respektieren und zu achten, denn der freie Wille ist des Menschen höchstes Gut. Das zu respektieren, ist meines Erachtens wahrhaftige Liebe.
Doch sich selbst dafür zu verleugnen, diese Entscheidung akzeptieren zu können, ist ungesund.
Wer stumm bleibt, während er immer wieder Enttäuschung und Verletzung durch Empathielosigkeit erlebt, wo Mitgefühl und ernst gemeintes Interesse angebracht wären, sorgt nicht für sich und nährt alte Wunden.
Du kannst niemanden dazu zwingen, dich zu lieben.
Es gibt viele Eltern, die lieben ihre Kinder auf ihre Art und begreifen nicht, dass diese Art wehtut. Zum Beispiel durch die Annahme, dass ein Tausch von Geld gegen einen Kontakt, den sie bestimmen, ein guter Deal wäre. Eine unterschwellige Herablassung und Erwartung, Gefühle zu unterdrücken, sind inbegriffen.
Manchen Eltern kann nur aus einer Distanz heraus vergeben werden, weil sie eine längst überwundene Selbstverleugnung oder das Verdrängen von psychischer oder körperlicher Gewalt in der Familie verlangen und das Sich-Beugen dieser Vorgaben ein gesundes Wachstum verhindert.
Wer so ein Muster wandeln möchte, um der nächsten Generation eine gesunde Selbstwahrnehmung zu ermöglichen, sollte das schlechte Gewissen nicht annehmen, das man ihm für seine Abgrenzung einreden möchte.
Wo seelische und/oder körperliche Gewalt und Desinteresse einst einen mangelnden Selbstwert im Kind erzeugten, sollte der Erwachsene heute darin unterstützt werden, seine eigene Wahrnehmung ernst zu nehmen und aus ihr heraus Entscheidungen zu treffen, die ihm dabei behilflich sind, in die eigene Kraft zu kommen.
Im System Familie sollte die Energie von oben nach unten fließen. Das ist ein universelles Gesetz.
Wenn dies nicht geschieht, gibt es keine Legitimation dafür, im Alter Fürsorge und Energie von den Jungen zu verlangen.
Es kommt zurück, was gegeben wurde, denn unsere Kinder sind unsere Spiegel.
Das ist, denke ich, auch ein Grund dafür, dass unsere Gesellschaft die Alten vergisst.
Die Jungen haben sich abgewandt, wo sie nicht gesehen wurden. Wie traurig, oder? Viele von ihnen haben versucht, die Eltern zu sehen, um gesehen zu werden und sind dabei gescheitert, weil die Eltern nicht so wollten wie sie selbst.
Die vielen einsamen alten Menschen erwecken in mir größtes Mitgefühl. Doch ich kenne die Motive ihrer Kinder nicht. Entweder sie arbeiten zu viel, oder sie meiden die Begegnung, weil sie wehtut und deshalb Kraft kostet. Heutzutage darf man sich nicht mehr erlauben, zu viel Kraft zu verlieren. Man muss stabil bleiben, wenn man der Entwicklung im Berufsleben gerecht werden möchte.
Die allgemeine Egalhaltung ist nicht nur in diesem Bereich radikal angestiegen.
Mich beschäftigt die Empathielosigkeit auch in politischen Bereichen sehr.
Nehmen wir die Zeit, bevor der Irakkrieg ausbrach. Damals demonstrierten noch viele Menschen und standen den Irakern zumindest moralisch bei.
Heute droht ein Krieg im Iran, und kaum jemanden interessiert es noch.
Es ist eine schöne Vorstellung, diese emotionale Kälte gesellschaftlich zu überwinden. Doch die Verantwortung dafür, dass das geschehen kann, tragen auch die Alten. Wir können das über fünf Generationen vererbte kollektive Trauma nur überwinden, wenn wir lernen, die Wut und die Trauer zuzulassen, diese einander zuzugestehen und darüber in den Austausch zu gehen und zu erkennen, dass es sich erst dann wieder wandeln kann, wenn man anfängt, es zu betrachten aber vor allem zu fühlen.
Und dann kam mir noch ein erleichternder Gedanke: die Angst vor der Wut im Gegenüber wird genährt von einer vererbten Angst vor Prügel und Unterdrückung. Diese Dinge haben alle Menschen in unseren Stammbäumen erlebt. Viele von ihnen haben die Gefühle dazu verdrängt und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.
In den meisten Fällen ist die Angst, Prügel zu beziehen, heute aber vollkommen unbegründet, wenn jemand seine Wut kommuniziert.
Hinter der Wut stehen Angst vor Ablehnung, Trauer und seelischer Lebensmut, den es braucht, um etwas Neues zu leben, das Alte zu wandeln.
Natürlich ist in jeder Wut auch ein Aggressionspotential enthalten. Aber man kann lernen, bei sich zu bleiben, wenn man sie kommuniziert. Man kann lernen, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Wenn man das tut, muss sie sich nicht mehr in Gewalt entladen.
Der Umgang mit Wut funktioniert nicht über die Sanktion und das gesellschaftliche Verbot.
Wir werden erst dann lernen, die Aggression in der Wut in gesunde Bahnen zu lenken, wenn wir neugierig auf sie werden und eine Botschaft in ihr vermuten, die uns dabei helfen kann, den Schmerz zu überwinden und unser Potential zu leben. Das geht nur, wenn die Gewalttätigen die ernst gemeinte Absicht üben, den sicheren Abstand zur Übertragung auf andere einzunehmen, der einen Weg zu ihrer Angst und ihrem Bedürfnis weist.
Wir dürfen bereit sein, unsere Angst anzusehen.
Wir dürfen lernen, unserer Wut zu begegnen und ihr zuzuhören. Nicht nur allein sondern auch im Kollektiv.
Nur so werden wir das meist ähnliche Bedürfnis dahinter erkennen können. Nur so werden wir lernen, unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen, zu erkennen, dass sie im Kern ganz ähnlich sind und in Frieden miteinander zu leben.
Wenn du einer der Menschen bist, die anderen raten, sich in ihre Familiendynamik hineinzubegeben, wenn sie damit hadern, stelle dir folgende Fragen:
1) Bin ich gerade wirklich im Mitgefühl oder im Widerstand gegen die Gefühle, die sich zeigen?
2) kann ich meine Erfahrung und/oder Theorie wirklich auf das betreffende Familiensystem übertragen?
3) weiß ich wirklich, dass der Mensch, der meinen Rat befolgen soll, dadurch in seine Kraft kommen wird?
Wenn du eine dieser Fragen mit Nein beantworten würdest, könnte es sein, dass dein Gegenüber schon einen Schritt weiter auf dem Weg der Wutverwandlung ist als du. Denn er ist schon an dem Punkt, sie anzusehen, anzunehmen und zu spüren.